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Gedächtnisbildung als kollektiver Prozess

Margit Hauser in: STICHWORT Newsletter 12/2001

STICHWORT - gegründet 1983 als Archiv der Neuen Frauenbewegung - sammelt seit fast zwei Jahrzehnten jede Art von Dokumenten zur Frauen- und Lesbenbewegung in Österreich - z. B.: Selbstdarstellungsfolder, Demo-Aufrufe, Protestschreiben, Veranstaltungseinladungen, Plakate, Tonbandmitschnitte von Tagungsplena, Informationsvideos, Tätigkeitsberichte und Gründungskonzepte, Manuskripte von Jubiläumsansprachen, Zeitschriften und Infoblätter, Pressemeldungen und vieles mehr. Archivwürdig ist potentiell alles, vom 2-Zentimeter-Button bis zum 12-Meter-Kundgebungstransparent, vom handgemalten Flugblatt bis zum Jubiläumsband. Damit stellt STICHWORT, neben den stärker regional orientierten Archiven ArchFem und DOKU Graz, die zentrale Dokumentations- und Informationsstelle zur autonomen Frauenbewegung und zu lesbischen Aktivitäten in Österreich dar.

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Fokus der Sammeltätigkeit bzw. des Archivaufbaues sind Gruppen - Gruppe ist dabei der Überbegriff für das gesamte Spektrum, von der spontanen Aktionsgruppe über die befristete Tagungsorganisationsgruppe bis zur langjährigen Einrichtung ('Women's-NGOs'). Wesentliches Kriterium ist aber die Autonomie, d. h. die Unabhängigkeit von Parteien, Kirchen, Gemeinden und großen Institutionen. Dieser Fokus hat sich aufgrund der Geschichte und Struktur der österreichischen Frauenbewegung ergeben und wird durch ein nach unserer Schlagwortsystematik aufgebautes Graue-Literatur-Archiv ergänzt, wo nicht gruppenmäßig zuordenbare Ereignisse und nicht-autonome Einrichtungen dokumentiert werden.

Die Dokumentation österreichischer Frauen-/Lesbengruppen im
STICHWORT umfasste zu Projektbeginn im Frühjahr 470 Gruppen. Die Dokumente werden im Interesse der Gruppe bewahrt, aufbereitet und den Nutzerinnen zur Verfügung gestellt. Die Bestände werden einerseits für wissenschaftliche Arbeiten, für Hintergrundrecherchen feministischer Journalistinnen sowie für Ausstellungszwecke genutzt, zum anderen stellt die Dokumentation eine Informationsquelle für Anfragen kontaktinteressierter Frauen dar. Durch die Form der Erschließung ist es möglich, rasch und einfach alle Materialien zu einer Frauengruppe aus den verschiedenen Sammlungen (Plakatarchiv, Medienarchiv etc.) aufzufinden.

Die gesammelten Dokumente gelangen großteils durch laufende Zusendung der einzelnen Gruppen, in einzelnen Fällen durch Überlassung geschlossener Bestände ins
STICHWORT. Dass dabei immer wieder Lücken entstehen, ist klar.

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Das Projekt

Im Rahmen des Netzwerks der österreichischen frauenspezifischen Informations- und Dokumentationsstellen FRIDA wird derzeit ein Projekt zur Aktualisierung der Dokumentation autonomer österreichischer Frauen- und Lesbengruppen durchgeführt.

Zentrales Anliegen dieses Projekts ist es, Daten zu aktualisieren und Lücken im Bestand der österreichischen Frauenbewegungsdokumentation zu schließen. Zum einen sollen grobe Bestandslücken bei bereits im
STICHWORT nachgewiesenen Gruppen geschlossen, zum anderen Kontakte zu noch nicht dokumentierten Frauengruppen hergestellt werden. In besonderem Maße sind wir auch an 'Nachlässen' aufgelöster Gruppen interessiert, um die Dokumente ihrer Arbeit, ihres Engagements und ihrer Kämpfe zu bewahren.

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Im Zuge des Projekts wird eine Frauengruppendatenbank erstellt, die künftig Interessentinnen raschen Zugang zu Basisinformationen über österreichische Frauengruppen ermöglichen wird. Die Datenbank wird zum einen Informationen über Gründungs- und Auflösungsdaten, Sitz, Tätigkeitsbereiche und Aktivitäten der Gruppen enthalten, zum anderen eine zusammenfassende Information über den Bestand der jeweiligen Gruppe im STICHWORT enthalten. Sie wird somit eine Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frauen- und Lesbenbewegung in Österreich bieten; mithilfe der Datenbank können aber auch Frauen, die Kontakt zu einer Betroffenengruppe suchen, die eine Initiative ins Leben rufen möchten und sich über ähnliche Projekte in der Vergangenheit informieren möchten oder die Projekte mit ähnlichen Tätigkeitsfeldern kontaktieren möchten, rasch und einfach an Informationen gelangen. Die Frauengruppendatenbank wird im STICHWORT vor Ort nutzbar sein und für Rechercheanfragen zur Verfügung stehen. Damit kann weitgehend kontrolliert werden, an wen die Informationen gelangen; Namen und etwaige andere sensible Informationen werden, entsprechend unseren Regeln für Interna, nur auf schriftlichen Antrag unter Offenlegung des Zweckes zugänglich gemacht.

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Aufgrund der von STICHWORT im Vorjahr geleisteten Vorarbeiten (Elektronisierung und Überprüfung der bisher vorhandenen Adressdaten der alten Gruppenkartei) kann die Datenbank als gesamtösterreichische bezeichnet werden, wenn auch die Bestandserfassung, -analyse und Materialakquisition nur für jene Bundesländer durchgeführt werden kann, die sich an der Projektfinanzierung beteiligen, das sind Wien, Salzburg, Oberösterreich und das Burgenland.1 Besonders schade ist, dass gerade jene Länderregierungen, in denen eine inhaltliche Vernetzung mit anderen feministischen Archiven und FRIDA-Partnerinnen möglich gewesen wäre (Tirol, Vorarlberg, Steiermark) kein Interesse an der Dokumentation der Frauenbewegung in ihrem Bundesland hatten.

Die Frauengruppendatenbank wird ansatzweise dennoch als elektronisches Findbuch gelesen werden können, da sie gegebenenfalls Fundstellenverweise zu anderen feministischen Archiven der Vernetzung FRIDA enthalten wird: Ziel ist es, die Dokumentationssituation der einzelnen Frauengruppen in Österreich sichtbar zu machen.

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Ein Quiz der besonderen Art

Im Zuge des Projekts wurden rund 300 Frauengruppen in Wien, Oberösterreich, Salzburg und dem Burgenland angeschrieben. Sie erhielten einen Ausdruck aus der Frauengruppen-Datenbank, der ihnen Aufschluss über die von ihnen vorhandenen Informationen gab und eine Übersicht über die im
STICHWORT archivierten Materialien bot. Wir ersuchten sie um Durchsicht und Ergänzung ihrer Daten und um Zusendung fehlender Materialien. Bis Ende August erhielten wir 110 Rückmeldungen. Fünf Prozent der Briefe kamen mit dem Postvermerk 'Adressatin verzogen' zurück, ein Teil davon konnte dann aber doch noch eruiert werden. Dabei ließen wir nichts unversucht: Wir klemmten uns hinter das Telefon, appellierten an das Langzeitgedächtnis von uns bekannten Alt-Aktivistinnen der Frauen- und Lesbenbewegung, entlockten ihnen Kontaktadressen, suchten Namen aus dem Telefonbuch - und wenn wir nicht ganz falsch verbunden waren, so wurden wir meist mit großer Freundlichkeit begrüßt. Die Frauen freuten sich, dass nach zehn, fünfzehn Jahren noch jemand von ihrer alten Frauengruppe wusste...

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Manchmal ist es einfach schwierig, Daten rückwirkend zu eruieren: Wann wurde Eure Gruppe gegründet? Wann ist die Änderung Eures Gruppennamens erfolgt? - Tja, das war vor meiner Zeit, das weiß keine aus unserem heutigen Team mehr... - Wir haben eine Lücke in den Dokumenten zwischen 1993 und 1996, habt ihr da nichts veröffentlicht? - Doch, aber das haben wir bei der letzten Übersiedlung alles entsorgt! - Immer wieder geht Material bei Übersiedlungen oder plötzlichen Vorstandswechseln verloren, und in einigen Fällen ist die Gruppendokumentation im STICHWORT wohl die einzig noch vorhandene. Es kommt daher immer wieder vor, dass Mitarbeiterinnen von Fraueneinrichtungen im STICHWORT die Dokumente ihrer eigenen Gruppe einsehen und sich so ihre Geschichte wieder aneignen können. Die Materialien - Flugblätter, Plakate, Transparente - werden dann manchmal für Jubiläumsausstellungen und -publikationen entlehnt.

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In einem zweiten Arbeitsschritt - und teilweise bereits auf der Basis des Rücklaufs - wurden noch nicht dokumentierte Gruppen eruiert, die nach der Sommerpause in einer zweiten großen Aussendung kontaktiert wurden. Dazu wurden wieder persönliche Kontakte genutzt, feministische Medien und Frauenbewegungsliteratur ausgewertet, neuere Adresslisten gesichtet und natürlich die Gedächtnisse der STICHWORT-Expertinnen durchgekämmt. Bis dato konnten noch 130 weitere Frauen- und Lesbengruppen gefunden werden - von den meisten besitzen wir nicht viel mehr als den Namen, und es wird von ihrer Rückmeldung abhängen, ob STICHWORT künftig weitergehende Informationen und Dokumente dieser Gruppen zur Verfügung stellen können wird. Aber auch nicht-autonome Initiativen wurden kontaktiert und um Zusendung ihrer Materialien gebeten, sodass insgesamt ein möglichst rundes Bild frauen-/lesbenbewegter Aktivitäten in Österreich entstehen kann. Durch die österreichweit publizierten Artikel hoffen wir, dass sich weitere Gruppen bei uns melden werden.

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Was ist ein Archiv?

Es gibt auch grundsätzliche Missverständnisse: Wie sich zeigt, sind sich gar nicht alle der dokumentierten Gruppen bewusst, dass die Dokumente, die sie uns teilweise seit Jahrzehnten laufend zusenden, hier archiviert werden. Das Projektteam kam zum Schluss, dass daher ein Abbruch der Zusendungen meist nicht als Entscheidung gegen
STICHWORT als Archivort zu interpretieren ist, sondern quasi als Administrationsfehler.

Wir erhalten auch Rücksendungen, in denen wir gebeten werden, einzelne Daten oder gleich die ganze Gruppe zu streichen, sie existiere ja schon seit Jahren nicht mehr! Solche Missverständnisse zeigen uns, dass hier nicht nur das Anliegen von
STICHWORT - die Dokumentation der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung seit den siebziger Jahren -, sondern der Sinn und Zweck archivarischer Arbeit im Allgemeinen nicht vermittelt werden konnte. Es wirft schließlich auch nicht das Stadt- und Landesarchiv den zu Lebzeiten übergebenen Nachlas einer Person weg, sobald sie stirbt...

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Ein grundsätzliches Ziel des Projektes ist es daher, dem feministischen Dokumentationswesen eine größere Öffentlichkeit zu verschaffen und frauen-/lesbenbewegt engagierte Frauen für die Notwendigkeit der Bewahrung und Sichtbarmachung ihrer Arbeit zu sensibilisieren: Mit unserer Dokumentationsarbeit wollen wir eine detaillierte Grundlage für die authentische Geschichtsschreibung der Vielfalt, Widerständigkeit und Zähigkeit frauen- und lesbenbewegter Praxis schaffen. Wir wünschen uns daher, dass zukünftig die Dokumente frauen-/lesbenbewegter Arbeit dem österreichweiten Archiv der Frauen/Lesbenbewegung STICHWORT, aber auch Archiven mit regionalem Schwerpunkt (wie ArchFem in Tirol und DOKU Graz) mit noch größerer Selbstverständlichkeit als bisher zur Archivierung übermittelt werden, um so dem Anspruch einer möglichst lückenlosen Dokumentation der Frauen/Lesben(bewegungs)geschichte in Österreich näher zu kommen.

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Das Projekt wird mit Jahresende abgeschlossen sein, die Dokumente frauen/lesbenbewegter Arbeit und Politik werden hoffentlich weiter fließen. Wir wünschen uns, dass in Zukunft feministische Historikerinnen, Politikwissenschaftlerinnen, Publizistinnen, Soziologinnen u.a.m. die nun wesentlich verbesserte Quellenlage im STICHWORT für ihre Forschungsarbeit nutzen und neue Projekte zur Erforschung der reichen Bestände initiiert werden.

Kontakt und weitere Information
Mag.a Elisabeth Frysak (FRIDA-Projektmitarbeiterin)
STICHWORT. Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung
Bibliothek Dokumentation Multimedia
Diefenbachgasse 38/1, 1150 Wien
Tel. u. Fax: (01)-812 98 86
office@stichwort.or.at

Anmerkung
1 Das Vorhaben wurde bei den für Archive zuständigen Kulturabteilungen der Bundesländer sowie beim Frauenbüro der Gemeinde Wien anteilsweise beantragt, teilweise an die Frauenbeauftragten delegiert und wird nun von folgenden vier Stellen, zumeist mit größeren Abstrichen, finanziert: dem Frauenbüro der Stadt Wien, dem Büro für Frauenfragen und Gleichstellung des Landes Salzburg, dem Referat Frauen und Familie sowie dem Amt der burgenländischen Landesregierung und dem Institut für Kulturförderung des Landes Oberösterreich.



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