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Verletzbarkeit im Netz

Eickelmann, Jennifer: »Hate Speech« und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies, Bielefeld: transcript 2017, 332 Seiten, € 34,00.

Gelesen von Brigitte Geiger

Shitstorms, Hate Speech, Cyberbullying & Co. werden zunehmend als negative Begleiterscheinungen vernetzter und mediatisierter Gesellschaften in Politik und Öffentlichkeit problematisiert. Anliegen Jennifer Eickelmanns ist eine kritische Reflexion der Diskurse und Effekte mediatisierter Missachtung – so ihr Oberbegriff für diffamierende Adressierungen in Online-Kommunikationen.

In dualismuskritischer und feministischer Perspektive argumentiert sie ausgehend von der Co-Konstruktion von Subjekt, Gender und Medientechnologien gegen vorschnelle Vereindeutigungen und dualistische Konstruktionen in wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten à la Gewalt versus Redefreiheit, ,männliche‘ Trolle versus Frauen als ,Opfer‘ und ein instrumentelles Verständnis von Online-Kommunikation als einfaches Werkzeug z. B. von Mobbing oder Bullying. Sie betont dagegen Verschränkungen und Interferenzen von Virtualität und Realität, die Spezifik von Multimodalität, Dauerkonnektivität und -adressierbarkeit sowie die Kontingenz mediatisierter Missachtung.

Konkretisiert wird ihr Zugang in zwei gründlichen Fallanalysen: Die unter #gamergate bekannt gewordene Geschichte der Spieleentwicklerin Anita Sarkeesien ist ein Beispiel, wie mit Referenz auf Redefreiheit und Fiktionalität feministische Kritik zum Schweigen gebracht werden sollte. Während hier Re-Konfigurationen zumindest teilweise gelingen, macht die zweite Fallanalyse, das im Selbstmord endende Harassment der 15-jährigen Amanda Todd, die gewalttätigen, realen Effekte diffamierender virtueller Adressierungen, die sogar über den Tod hinausgehen, deutlich. Nicht zum Tragen kamen hingegen die mit Sichtbarmachung ja prinzipiell auch gegebenen Chancen, Solidarisierung zu generieren und die individuelle Leidensgeschichte als Kollektivphänomen neu zu rahmen.

„Hate Speech“ ist ein wichtiges Buch zu einer aktuellen Debatte (dem ein weiterer Korrekturdurchgang nicht geschadet hätte) – das in seiner Differenziertheit eine gewisse Bereitschaft erfordert, sich auf theoretische Klärungen und manchmal redundante Begrifflichkeiten einzulassen, und aufgrund der Komplexität und diskursiven Verschränkungen leider keine (einfachen) Antworten auf die Frage nach Handlungsstrategien geben kann.

Brigitte Geiger ist Medien- und Kommunikationswissenschafterin, Universitätslektorin und im Vorstand von STICHWORT.


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