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Perspektivenwechsel

Zegura, Elizabeth Chesney: Marguerite de Navarre’s Shifting Gaze. Perspectives on gender, class, and politics in the Heptaméron. (= Women and Gender in the Early Modern World), London, New York: Routledge, 2017, 276 Seiten, ca. € 130. 

Gelesen von Margit Hauser

Marguerite de Navarres Hauptwerk, das Heptameron, entstand in den 1540er Jahren und wurde einige Jahre danach posthum veröffentlicht. Was vordergründig eine Novellensammlung im Stil des Decamerone ist, eröffnet sich in der Analyse von Zegura, Romanistin an der Universität von Arizona, als vielschichtiges und vor allem sozialkritisches Werk. Dies mag überraschen, ist Marguerite doch als Schwester des französischen Königs François I. und in zweiter Ehe verheiratet mit dem König von Navarra, Henri d’Albret, im höfischen Leben verortet. Zegura kontextualisiert das Werk anhand der Biografie der Königin, die selbst in politische Geschäfte involviert war, und in ihrer Position eine Vielzahl politischer Erfordernisse berücksichtigen musste. Das Heptameron bietet Einblicke in religöse, politische und soziologische Spannungen der Renaissance und in die private Sphäre frühmoderner Kultur.

Im dialogischen Diskurs der Rahmenhandlung, in der eine Gruppe von PilgerInnen einander Geschichten erzählt, hinterfragt Marguerite de Navarre kulturelle Glaubenssätze; die jeweils als moralisches Lehrstück dargebrachte Handlung wird, wie Zegura zeigt, mit eigenen Erfahrungen und realistischen Intertexten verschränkt. Reflexionen zu Geschlechterrollen und sozialen Bedingungen durchziehen die 72 Erzählungen. Machtmissbrauch und klassen- und geschlechterbasierte Gewalt in religiösen und staatlichen Hierarchien sind ein oft wiederkehrendes Thema, verbunden mit der Darstellung von machtlosen Standpunkten und Perspektiven des Andersseins. Das Thema der sexuellen Gewalt gegen Frauen, auch Frauen unterer Klassen, ist immer wieder präsent.

Zegura richtet das Augenmerk auf die perspektivische Blickführung der Autorin und ihrer ProtagonistInnen, sei es der himmelwärts gerichtete Blick des Opfers als Zeichen der Frömmigkeit und moralischen Unversehrtheit, sei es der Blick von „oben“ auf die „unteren“ Klassen, wobei die Rahmenhandlung von der Autorin öfters als Hinterfragung dieser Perspektive eingesetzt wird. Zegura beschreibt das Werk, das im Zusammenhang mit der Querelle des femmes gesehen werden muss, in spannender Weise als visuellen Irrgarten (scopic maze), in dem nie einzelne Perspektiven oder Standpunkte angetroffen werden.

Mag.a Margit Hauser ist langjährige Mitarbeiterin und Geschäftsführerin von STICHWORT. Sie veröffentlichte zur feministischen Philosophie sowie zum feministischen Informations- und Dokumentationswesen.


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