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Am Ende geht es immer um die Marie

Vea Kaiser; Gertraud Klemm; Doris Knecht; Lydia Mischkulnig; Angelika Reitzer; Eva Rossmann; Cornelia Travnicek: Die sieben Leben der Marie Schwarz. Wien, Graz: Molden Verlag, 2020, 144 Seiten, € 24.

Gelesen von Eva Steinheimer

1819 wurde in Wien die Erste oesterreichische Spar-Casse gegründet. Noch im selben Jahr erhielten 100 „hilfswürdige Kinder der unteren Klassen“ Sparbücher mit je 10 Gulden (etwa 194 Euro) Guthaben und einem Fixzinssatz von 4 Prozent. Wohltätigkeit als Werbeaktion für die neue Zugangsmöglichkeit von armen Bevölkerungsgruppen zu den Dienstleistungen von Banken. 200 Jahre später feiert die Bank Jubiläum. Gewissermaßen als Teil des kulturellen Begleitprogramms lädt man sieben erfolgreiche Autorinnen ein, das Leben eines der 1819 beschenkten Kinder zu imaginieren. Marie Schwarz, 12 Jahre alt, erhielt damals das Sparbuch mit der Nummer 1. Außer diesem Sparbuch mit seinen Einträgen über Einlagen und Auszahlungen hat Marie keine Spuren hinterlassen. Basierend auf diesen vagen Fakten entstanden sieben sehr unterschiedliche Kurzgeschichten.

Drei Autorinnen verlegen Maries Geschichte in die Gegenwart bzw. nahe Vergangenheit, drei bleiben im 19. Jahrhundert, eine, Eva Rossmann, verknüpft einen gegenwärtigen Erzählstrang mit einem vergangenen – die Journalistin Marie Schwarz recherchiert zur Biographie einer vermeintlichen Ahnin mit gleichem Namen der früheren Sparbuchbesitzerin. Mit Kontextinformation und Schnipseln aus der Familiengeschichte zeichnet sie auch ein Bild der sich über die Jahrhunderte ändernden Lebensbedingungen der Frauen. Gleichzeitig ist Rossmanns Geschichte die einzige der Anthologie, die Finanz- und Bankwirtschaft kritisch unter die Lupe nimmt.
Einige Beiträge rücken klassische feministische Themen in den Fokus. Gertraud Klemms Marie heißt Mutsch, kämpft in den frühen 1970ern mit den Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung und kann eine illegale Abtreibung schließlich nur bezahlen, weil ihr ein Kumpel, der sie als verschmähter Liebhaber moralisch verurteilt, dann doch das Geld leiht. Eine starke Geschichte, mit der Klassentreffen-Rahmenhandlung auch tragisch-amüsant. Mit einer abenteuerlichen lesbischen Liebesgeschichte zwischen Europa und der Neuen Welt des 19. Jahrhunderts bereichert Cornelia Travnicek den Band, auch was die literarische Qualität betrifft.
Sozialkritisch gibt sich Doris Knechts Text, in dem eine zeitgenössische Marie um den sozialen Aufstieg aus schwierigen Familienverhältnissen durch höhere Bildung kämpft. In vielem auf den Punkt gebracht. Dass ein einmaliges 500-Euro-Stipendium, das sie als Gymnasiastin bekommt, dazu wirklich der entscheidende Schlüssel sein soll, bleibt fraglich.
Des weiteren entwerfen Vea Kaiser, Lydia Mischkulnig und Angelika Reitzer Skizzen von Frauenleben voller Wünsche und Ambitionen in unterschiedlichen sozialen Milieus.

Der Band insgesamt liest sich schnell und unterhaltsam, die Autorinnen verstehen ihr Handwerk. In Summe bleibt aber das Gefühl, dass in dem Thema Geld mehr kritisches Potenzial gesteckt hätte – auch oder gerade als Auftragswerk einer großen Bank. Am Ende ist die Anthologie wahrscheinlich ein Zeugnis des Zeitgeists und als solches im STICHWORT bestens aufgehoben.

Mag.a Eva Steinmeier, Skandinavistin und Politologin, arbeitet in der außeruniversitären (Erwachsenen)Bildungsforschung. Sie ist langjährige Mitarbeiterin der feministischen Rezensionszeitschrift WeiberDiwan.


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