Archiv & Bibliothek  > Rezensionen zurück  
 

„Wir haben Geschichte geschrieben“

Yoshiko Kusano, Caroline Minjolle und Francesca Palazzi (Hg.): Wir. Fotografinnen am Frauen*streik. Basel: Christoph Merian Verlag, 2020, 140 Seiten, € 32,90.

Gelesen von Brigitte Geiger

14. Juni 2019: Frauen*streiktag knapp 30 Jahre nach dem ersten großen Schweizer Frauenstreik 1991. Über eine halbe Million beteiligt sich an dieser „grössten politischen Aktion in der Schweiz seit dem Generalstreik 1918“. 31 Fotografinnen und 1 Fotografix dokumentierten verteilt über das ganze Land dieses Ereignis. Zunächst organisiert, um eigenständige weibliche Sichtweisen für die Medien bereitzustellen, wuchs danach der Wunsch, „die Energie dieses Tages“ nachhaltig festzuhalten. Entstanden ist so ein großzügig gestalteter Bildband.

Eingeleitet wird der Band – auf goldfarbenem Papier – durch einen Abriss der Entstehungsgeschichte, sechs kurze Textbeiträge von Beteiligten aus Gewerkschaft, Journalismus, Politik und feministischer Szene sowie von kontextualisierenden Statements der Fotograf*innen. Sie erzählen von ihrem Background, wo sie warum fotografierten, und beschreiben, wie sie den Tag erlebten. Neben nachdenklichen und auch kritischen Reflexionen dominieren in den Texten Euphorie, Freude und Begeisterung – über einen außer­gewöhnlichen „Tag reiner Freude“, die überwältigende Mobilisierung, das gemeinsame Erleben, die Atmossphäre „liebevoll und fröhlich“, „Violett überall“. Diese positive Stimmung und Energie vermitteln auch die rund 90 großformatigen Farbfotos: Sie zeigen Vorbereitungsarbeiten wie Transparente malen, Menschenmassen, u. a. bei der „grössten Demo, die Zürich je erlebt hat“, einzelne Aktionen wie einen nächtlichen Autokorso in Bern, Straßenumbenennungen, eine Performance gegen Gewalt, ruhige Momente abseits, Frauengruppen plaudernd, gemeinsam essend, kämpferisch die Faust reckend und viele Portraits einzelner Frauen – strahlend, lachend oder ernst und entschlossen, geschminkt, mit witzigen Slogans und bunten Accessoires. Texte wie Fotos betonen die Vielfalt der Aktivitäten und Beteiligten – generationenübergreifend junge Femen- und Slutwalk- Aktivistinnen neben älteren Frauen und kleinen Mädchen –, machen aber auch Diskrepanzen sichtbar zwischen ländlich, kleinstädtischen Orten und den urbanen Zentren, zwischen Arbeiterinnen in Niedriglohnbranchen, die höchstens eine kurze Pause einlegen konnten, und hippen, ausgelassenen städtischen Szenen, zwischen Familienumzug und Dorffest und dem Pussy-Riot-Konzert in Verbindung mit der Zürcher Pride als Abschluss.

Wie schon 1991 war der Frauen*streik kein klassischer Streik, sondern ein Aktionstag – mit einer beeindruckenden Mobilisierung eines inklusiven WIRs. Wer mit solidarischer Begeisterung und corona-verstärkter Wehmut in die Schweiz blickt, freut sich darüber, etwas von dieser Stimmung in Text und Bild bewahrt zu sehen.

Brigitte Geiger ist Medien- und Kommunikationswissenschafterin, Universitätslektorin und im Vorstand von STICHWORT.


> nächste
< vorige
top   zurück