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Vom Genuss und seinen Grenzen

Theresa Adamski, Doreen Blake, Veronika Duma, Veronika Helfert, Michaela Neuwirth, Tim Rütten, Waltraud Schütz (Hg.): Geschlechtergeschichten vom Genuss. Zum 60. Geburtstag von Gabriella Hauch. Wien, Berlin: mandelbaum verlag, 2019, 400 Seiten, € 28.

Gelesen von Brigitte Geiger

Die Festschrift für die Historikerin, Frauen- und Geschlechterforscherin Gabriella Hauch, Professorin an der Uni Wien, zum 60. Geburtstag folgt den vielen Facetten des Genusses – kulinarisch, geistig, sinnlich, ästhetisch – und seinen Verschränkungen mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen, Diskursen, Moralvorstellungen und (juristischen) Normierungen, die den Zugang und die Möglichkeiten des Genießens nicht zuletzt entlang der Geschlechterlinie regeln.
Über 30 Freund*innen, Kolleg*innen und Weggefährt*innen nähern sich dem Thema vor dem Hintergrund ihrer Interessen und Forschungspersepktiven in überwiegend, aber nicht nur historischen Perspektiven, die sinnliches Erleben u. a. in autobiografischen Texten, aber auch ex negativo aus Gerichtsakten rekonstruieren. Der zeitliche Fokus liegt (den Forschungsschwerpunkten Hauchs folgend) auf dem 19. und 20. Jahrhundert.

Gegliedert in sieben Abschnitte behandeln die Beiträge u. a. die Rolle und Bedeutung von Genuss im Leben politischer Akteur*innen (u. a. Käthe Schirmacher und Käthe Leichter), reflektieren Freude und Leidenschaft im kollektiven Handeln, Denken, in Protest und Widerstand (z. B. in Arbeiter* innenprotesten, der Burggartenbewegung oder dem Schweizer Frauenstreik), verfolgen die Anstrengungen von Frauen, die ihrem Traum im Tanz, der Alpinistik oder der Musik nachkommen wollen. Ganz zentral sind es die materiellen Verhältnisse, die Handlungsperspektiven und Genuss­möglichkeiten bestimmen, aber selbst unter schwierigsten, ausbeuterischen Arbeits- und Lebensumständen (Beispiele Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg, Landarbeiter*innen, Sklav*innen in der amerikanischen Plantagenwirtschaft) lässt sich etwas Wohlbefinden durch Lebensmittel und Gemeinschaft erringen. Einen großen Schwerpunkt bilden weiters Analysen zur Entwicklung moralischer und gesetzlicher Regelungen, die Genuss entlang von Geschlechter- und Klassengrenzen normieren und einschränken: von Drogenkonsum über die „Verschwendungskuratel“ und „Luxusordnungen“, die geziemenden und übermäßigen Genuss regeln, bis zu Sittlichkeits­vorstellungen und rechtlichen Sanktionierungen von sexueller Lust – insbesondere von weiblichem und gleichgeschlechtlichem Begehren.

Der von (ehemaligen) Mitarbeiter*innen herausgegebene Band bietet so kein systematisches Bild vom Genuss und seinen Regulierungen, aber ein anregendes und buntes Potpourri an Perspektiven und Zugängen, kleine Einblicke in unterschiedlichste Genusspraxen und Kontexte und lädt damit zu neugierigem Schmökern und Entdecken ein – nicht nur ein Buch über Genuss, sondern selbst eine genussvolle Lektüre.

Brigitte Geiger ist Medien- und Kommunikationswissenschafterin, Universitätslektorin und im Vorstand von STICHWORT.


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