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Mit (scheinbaren?) Widersprüchen leben

Sule Dursun: Den eigenen Weg suchen und finden. Deutungsmuster von Religion und Religiosität bei Frauen türkischer Herkunft mit Universitätsabschluss in Wien (= Religion & Bildung 3). Wien: Lit Verlag, 2020, 343 Seiten, € 41,10.

Gelesen von Helga Widtmann

Sule Dursun ist islamische Religionslehrerin in Wien. In ihrer empirischen Studie (und Dissertation) untersucht sie anhand von mit qualitativen Forschungsmethoden ausgewerteten Interviews, wie Frauen türkischer Herkunft, teils in der Türkei, teils in Österreich aufgewachsen und aus unterschiedlichen Schichten, im Laufe ihres Studiums und ihrer Berufstätigkeit versuchen, verinnerlichte religiöse Werte und Rollenbilder mit ihren individuellen Vorstellungen von Beruf und Familienleben zu vereinbaren. Nach einem Überblick über den Bildungsstand von Personen türkischer Herkunft in Österreich, über die Bewertung von Bildung für Frauen in den religiösen Quellen und über die Bedeutung religiöser Handbücher im Leben der MuslimInnen türkischer Herkunft folgen die Interviews mit sieben Interviewpartnerinnen. In den verschiedenen Themenfeldern geht es um den jeweiligen Stellenwert von Beruf und Familie, um die Geschlechter­rollen­vorstellungen in verschiedenen Strömungen des Islam und um die religiöse Praxis und ihre Vereinbarkeit mit der Berufstätigkeit. Die Studienrichtungen der Interviewten reichen von Elektrotechnik bis Rechtswissenschaft; ihr Islamverständnis orientiert sich nicht mehr an religiösen Handbüchern und der Volksfrömmigkeit; ihre religiöse Praxis haben sie nach ihren individuellen Bedürfnissen modifiziert, ohne sich von ihrer Religion zu distanzieren, z. B. beten mit Kopftuch, aber spazieren gehen ohne. Das traditionelle Rollenbild aus den religiösen Handbüchern übernehmen die Interviewten teilweise, z. B. was die finanzielle Sorgepflicht des Ehemannes betrifft, aber nicht in Bezug auf das Recht von verheirateten Frauen auf Berufstätigkeit. Diese „Symbiose aus Tradition und Moderne in den Denkstrukturen der Frauen“ bewertet die Autorin als „Ambivalenzmanagement“, das etwa auch bezüglich der islamischen Kleidungsvorschriften zum Tragen kommt. Eine materialreiche Studie, die klischeehafte Sichtweisen etwas modifizieren könnte.

Helga Widtmann ist Buchhändlerin, Bibliothekarin und Mitarbeiterin von STICHWORT.


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