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Eine Bewegung – viele Positionen: Fragile Solidaritäten
der britischen und deutschen Frauenbewegung

Jana Günther: Fragile Solidaritäten: Klasse und Geschlecht in der britischen und deutschen Frauenbewegung. Hamburg: Marta Press, 2019, 385 Seiten, € 44.

Gelesen von Elena Fürst

Jana Günthers Studie zur Ersten Frauenbewegung beginnt mit einer Kritik an der in der Bewegungsforschung etablierten These der Inszenierung kollektiver Identität als verbindendes Element innerhalb einer sozialen Bewegung. Problematisch sieht sie den daraus resultierenden Fokus der Forschung auf die Idee der Solidarität im Kampf gegen vergeschlechtlichte Macht­verhältnisse, während die Vielzahl an heterogenen und sich teilweise widersprechenden politischen Positionen außer Acht gelassen wird. Ihr Anspruch liegt daher in einer Dekonstruktion des Narrativs der Homogenität der Frauenbewegung mithilfe einer intersektionalen Perspektive auf unterschiedliche Mobilisierungsstrategien und Themen deutscher und britischer Frauenvereine und -organisationen der Ersten Frauenbewegung.
Trotz dieser Kritik baut die Analyse auf der Theorie der (feministischen) Bewegungsforschung auf und untersucht drei verschiedene Ebenen der Frauenbewegung: politische Gelegenheitsstrukturen, Rahmungen/Framings und Mobilisierungsstrukturen. Im klassischen Duktus einer Dissertation widmet sich Günther zunächst ausführlich den historischen Kontexten der ersten Welle der Frauenbewegung und vergleicht bzw. unterscheidet die Bedingungen der deutschen und der britischen Bewegung, bevor sie in eine inhaltliche Analyse der Diskurse im Untersuchungszeitraum 1908 bis 1914 überleitet. Um den Einfluss des Zusammenspiels der Ungleichheitskategorien Klasse und Geschlecht auf die verschiedenen Positionen der Bewegung – bzw. die artikulierten Themen und entsprechenden Framings – in den Vordergrund zu stellen, fokussiert Günther auf vier konkrete Organisationen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung und deren Publikationen: den Bund deutscher Frauenvereine (Centralblatt/Die Frauenfrage) und die National Union of Suffrage Societies (The Common Cause) sowie die proletarische Frauenbewegung (Die Arbeiterin/Die Gleichheit) und die Women’s Social and Political Union (Votes for Women, The Suffragette). Während sich die Themenbereiche der Bündnisse – politische Mitbestimmung, Arbeit und Bildung sowie Familienpolitik, Sittlichkeit und Soziales – vielfach überschneiden, unterscheiden sich die Framings und Mobilisierungsstrategien, mithilfe derer die verschiedenen Positionen und Ziele artikuliert und umgesetzt werden. Besonders erkenntnisbringend an dieser intersektionalen Mehrebenenanalyse ist nicht nur der Vergleich der frühen britischen und der deutschen Frauenbewegung, sondern insbesondere die detaillierte Darstellung der Konflikte und Auseinandersetzungen innerhalb der nationalen feministischen Diskurse.

Elena Fürst ist Literaturwissenschafterin und arbeitet als Bibliothekarin im STICHWORT.


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