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„Töchternarrative“ und literarische Erinnerungsprozesse

Lena Ekelund: Töchterstimmen. Transgenerationale Traumatisierung und literarische Überlieferung in Texten von Barbara Honigmann, Viola Roggenkamp, Julya Rabinowich, Olga Grjasnowa und Katja Petrowskaja. Würzburg: Könighausen und Neumann, 2021, € 39,10.

Gelesen von Elena Fürst

Was ist „jüdisch-deutsche Literatur“? Und wie gestaltet sich „weibliche Literatur“? Lena Ekelund widmet sich in ihrer publizierten Dissertation Töchterstimmen einem literarischen Korpus, den sie mehrfach auch mit den einleitend verwendeten Begriffen kennzeichnet. Diese undifferenzierten Kategorisierungen sind aus literaturwissenschaftlicher und gender­theoretischer Perspektive problematisch, untergraben aber insgesamt nicht den Gehalt der Fragestellung und Analyse der Arbeit. Ekelund widmet sich einem (wissenschaftlich) noch relativ unbeachteten Korpus an deutsch­sprachigen Texten der Gegenwart, und auch wenn die Verbindung der Texte zu den Biographien der Autorinnen, die sie immer wieder herstellt, reflektiert werden muss, so entsteht durch den spezifischen Vergleich dieser Werke doch ein erkenntnisreicher Gewinn.
Sechs Anthologien und Romane von fünf Autorinnen – Barbara Honigmann, Viola Roggenkamp, Julya Rabinowich, Olga Grjasnowa und Katja Petrowskaja – untersucht Ekelund in Bezug auf die Erzählperspektiven und arbeitet verschiedene, prägnante Motive zur gleichartigen Thematik der Texte heraus: das transgenerationale Erinnern an traumatische Erfahrungen jüdischer Familien. Erzählt werden in den Werken das Nachleben der Shoah, aber auch Migrationserfahrungen der Protagonistinnen – Großmütter, Tanten, Mütter, aber vor allem Töchter – in und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entlang weiblicher Generationenfolgen und in Form eines mehrdeutigen „Überlieferungsverlangens“. Die untersuchten Texte sind aber auch von Leerstellen unterschiedlicher Formen gezeichnet, die stellvertretend für ein unaussprechliches Trauma stehen. Unabhängig von einer Kategorisierung als „jüdisch-deutsche Literatur“ ist Ekelunds Korpus ein spannender Untersuchungsgegenstand, und ihre komparatistische Analyse macht auf ein bemerkenswertes Motiv aufmerksam: die Verknüpfung des eigenen Lebens und Erlebens der Protagonistinnen mit den (traumatischen) Erfahrungen der Vorfahren in privaten wie politischen Kontexten.

Elena Fürst ist Literaturwissenschafterin und arbeitet als Bibliothekarin im STICHWORT.


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