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Weibliche Handlungsspielräume zwischen Widerstand
und Anpassung

Lilla Kráz, Brigitta Pesti, Andrea Seidler (Hg.): Medien, Orte, Rituale. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation im Königreich Ungarn. Wien: Praesens, 2020, € 32.

Gelesen von Elena Fürst

Dem Sammelband Medien, Orte, Rituale ging eine Workshopreihe österreichischer und ungarischer Institutionen voraus, die sich Beziehungspflege und Kommunikationsstrategien von Frauen unterschiedlicher sozialer Milieusvom16. bis zum 20. Jahrhundert widmete. Erkenntnisse und Analysen der Workshops sind in Beiträgen von 18 Autor*innen dokumentiertundin dreiThemenkomplexe unterteilt: „OrteundRituale der weiblichen Handlungswelt“, „Medien und weibliche Kommunikation“ und „Weibliche Rollenkonstruktionen“. Verschiedene Disziplinen, Methoden und Thesen der Sozial- und Kulturwissenschaften findenimSammelband nebeneinander Platz und geben in ihrer Gesamtheit sowohl einen einführenden Überblick über ein doch sehr heterogenes Themengebiet als auch Antworten auf spezifische und vor allem komplexe Fragestellungen der ungarischen Frauenforschung. Wenngleich der theoretische Unterbau der verschiedenen Analysen nur teilweise auf feministische Theorien zurückgreift, so nehmen die Beiträge in der Wahl der Fragestellungen, der Reflexion der Quellen und der starken Kritik an Sekundärliteratur doch eine klar feministische Perspektive ein.
Blanka Szeghyová behandelt beispielsweise in ihrem Beitrag bisher noch unzureichend untersuchte Quellen strafrechtlichen Charakters aus dem 16. Jahrhundert. Dabei widmet sie sich einerseits den größtenteils geschlechterspezifischen Anklagepunkten – Unzucht, Ehebruch, Kindstötung – und andererseits insbesondere den Kommunikationsstrategien der angeklagten Frauen. Einen Sprung ins 20. Jahrhundert macht der Beitrag von Balázs Sipos, in dem das ungarische Pressewesen, insbesondere der Beruf der Journalistin, in der Doppelmonarchie beleuchtet wird. Untersucht werden die Lebensumstände und Texte der „ersten“ Berufsjournalistinnen, also jener Frauen, die im Zuge der Professionalisierung des Berufes nicht – wie so oft – ausgeschlossen wurden, sondern von ihrem Schreiben tatsächlich leben konnten.
Der Sammelband besticht durch die Vielseitigkeit der untersuchten Quellen, die sich auf Frauen unterschiedlichster Herkunft und sozialer Stellung beziehen, und eröffnet somit eine implizit intersektionale Perspektive auf die (ungarische) feministische Geschichtsschreibung.

Elena Fürst ist Literaturwissenschafterin und arbeitet als Bibliothekarin im STICHWORT.


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