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So viel Kunst und so viel Leben

Dorothea Zwirner: Thea Sternheim – Chronistin der Moderne. Biographie, Göttingen: Wallstein, 2021, 413 Seiten, € 28,80.

Gelesen von Helga Widtmann

Thea Sternheim (1883–1971) hat umfangreiche Tagebücher hinterlassen – auf fast 34.000 Seiten bietet sie ein kenntnisreiches und schillerndes Panorama des kulturellen Lebens in Deutschland und später in Frankreich, von 1903 bis 1971. Als wohlhabende Erbin, in zweiter Ehe verheiratet mit dem Dramatiker Carl Sternheim, hat sie nicht nur Zugang zu Künstler* innen- und Schriftsteller*innenkreisen, sondern auch genug Geld, um gemeinsam mit ihrem Mann Kunst zu sammeln, viele Reisen zu unternehmen und anfänglich auch das Leben mit ihrem zweiten Mann zu genießen.
Dorothea Zwirner legt als Kunsthistorikerin in ihrer umfang- und detailreichen Biografie dieser „Chronistin der Moderne“ daher auch einen Schwerpunkt auf die Entstehung der Kunstsammlung des Paares, die von van Gogh bis Picasso reichte, zeigt Thea Sternheim aber auch als wache Beobachterin der politischen Entwicklungen, als christliche Pazifistin, als leidenschaftliche und kritische Leserin von u. a. Gustave Flaubert, André Gide, Gottfried Benn oder Stendhal und als Gastgeberin und Freundin vieler mehr oder weniger berühmter Protagonist*innen des Kulturlebens. Daneben beschreibt Dorothea Zwirner auch das Leben Thea Sternheims als enttäuschte Ehefrau eines bekannten, ständig mit anderen Frauen liierten Mannes, als Mutter dreier Kinder (Agnes, Mopsa und Klaus) aus zwei Ehen, die nur zeitweise bei ihr lebten, als Frau, die ihren Ehemann beim Nachstellen oder sexuellen Belästigen ihrer Töchter wahrnimmt. Thea Sternheim lässt sich 1927 von Sternheim scheiden und verlässt früher als andere schon 1932 aus politischen Gründen Deutschland, um mit ihren beiden Kindern Mopsa und Klaus in Paris zu leben. Auch dort nimmt sie Anteil am literarischen, kulturellen und politischen Leben, ist in der Zeit der deutschen Besatzung auch für kurze Zeit im Lager Gurs interniert. Ihre Tochter Mopsa überlebt zwar die Deportation ins KZ Ravensbrück, stirbt aber 1954 an einer Krebserkrankung; ihr Sohn Klaus stirbt 1946 an den Folgen seiner Drogensucht in Mexiko. Thea Sternheim verbringt noch einige Jahre allein in Paris und lebt dann bis zu ihrem Tod in Basel, wo ihre Tochter Agnes lebt.
Bei der Lektüre hat sich die Rezensentin zwar des Öfteren eine mehr feministisch fundierte Sicht auf dieses programmatische Frauenleben des 20. Jahrhunderts gewünscht, davon abgesehen ist es Dorothea Zwirner aber ausgezeichnet gelungen, ausgehend von diesen so umfangreichen Tagebüchern eine spannende Biografie von Thea Sternheim zu verfassen.

Helga Widtmann ist Buchhändlerin, Bibliothekarin und Mitarbeiterin von STICHWORT.


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