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Texte und Textilien

Sabine Scholl: Über Elfriede Gerstl. Wien, Berlin: mandelbaum verlag, 2022, 96 Seiten, € 12

Gelesen von Elena Fürst

Dass der Kanon immer nochmännlich geprägt ist – sowohl seine Zusammenstellung als auch das Zusammengestellte – überrascht (leider) wenig. Dem setzt sich die Reihe Autorinnen feiern Autorinnen entgegen: Jedes Jahr lädt die Stadt Wien eine Autorin ein, eine Festrede zu Ehren einer Wiener Schriftstellerin zu halten. Zum 90. Geburtstag der 2009 verstorbenen Dichterin schreibt Sabine Scholl Über Elfriede Gerstl. Scholl legt dabei großen Wert darauf, nicht (nur) die gleichen Muster zu bedienen, mit denen der Literaturbetrieb – literarische Weggefährt* innen sowie die Literaturkritik und -wissenschaft – Gerstls Schreiben kategorisiert hat: Das „Kleine“, das „Flüchtige“, das „Versteckte“ und das „Sammeln“ sind zwar Motive, die sich in und zu Gerstls Texten häufig wiederfinden. Gleichzeitig entstehen diese Kategorien aber auch durch eine bestimmte Perspektive auf „weibliches Schreiben“, wodurch der Blick auf größere Zusammenhänge verloren geht. Scholl versucht stattdessen, anhand einer Analyse von Gerstls Gedicht Kleiderflug oder lost clothes den Blick zu weiten; und fordert damit nicht nur die Leser*innen, sondern auch die Wissenschaft auf, mehr Raum für die Auseinandersetzung mit der Autorin zu schaffen. Scholls Analyse gestaltet sich gleichzeitig als close reading des Gedichts und als biographische Auseinandersetzung mit dem Leben der Autorin. Was den Regeln einer literaturwissenschaftlichen Analyse nicht standhalten würde, hat als Essay dieser Buchreihe enormes Potenzial: Parallelen der im Text dargestellten Figuren mit dem Leben Gerstls werden von Scholl aufgegriffen und mit weiteren Informationen angereichert. Spannend ist dabei, wie der Titel des Gedichts bereits verrät, das Motiv der Kleidung – Mode, Modezeitschriften, Mangelware –; das den Verlauf (oder „Flug“) des Lebens der Protagonistin (und wie Scholl vermutet auch jenes der Autorin) abbildet. Scholls Interpretationen machen Lust auf mehr und können als Appell an die Leser*innen, mehr noch an die Wissenschaft, verstanden werden, Elfriede Gerstls Werk und Biographie näher zu beleuchten und aus neuen Perspektiven zu betrachten.

Elena Fürst ist Literaturwissenschafterin und arbeitet als Bibliothekarin.


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